Was kann das Virus heilen? 

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Man wird viel fragen und hinterfragen müssen. Es wird Jahre dauern, vielleicht Jahrzehnte. Noch hört man am lautesten Virologen und Mediziner forschen, aber längst drängen sich mahnende Stimmen anderer Disziplinen dazwischen. Was ist mit der Weltwirtschaft, was passiert in Köpfen von Kindern, die nicht zur Schule gehen, wie verändert sich die Gesellschaft, das Machtgefüge, das kulturelle Gedächtnis der Menschheit? Die Suche nach Antworten wird Bücher füllen, Bibliotheken. Man kann mit einem Verstehen jetzt noch gar nicht wirklich angefangen. Es ist eher ein Staunen, eine Ansammlung von Situationen, Aha-Erlebnissen, Hoffnungen und Befürchtungen, Erkenntnissen und Inspirationen, die man so nicht oder niemals in der Intensität und Geschwindigkeit gehabt hätte, wäre die Welt in ihrem Trott geblieben. 

Irgendwo in China, man sagt es war auf einem Markt in Wuhan, passiert etwas. Vielleicht ein Zufall, Achtlosigkeit, oder der vom Menschen betriebene unmenschliche Umgang mit Tieren. In rasender Geschwindigkeit beeinflusst dieses eine Ereignis die ganze Welt, führt uns vor Augen, was Globalisierung wirklich bedeutet. Innerhalb weniger Monate schließt ein neuartiges Virus Schulen auf der ganzen Welt, überlastet Krankenhäuser, lässt Gesichter hinter Masken verschwinden, zerstört Leben und Existenzen, schürt Ängste. Das Virus ist nicht gerecht, es nimmt sich, was es kriegen kann. Es wird direkt oder indirekt besonders dort gnadenlos wüten, wo man an der Globalisierung gar nicht wirklich teilgenommen hat. Auch wer nie reist, internationale Geschäftstermine gar nicht kennt, verliert seine Lebensgrundlage oder stirbt schlimmstenfalls. Man sorgt sich in vielen Teilen der Welt um Essen, und in manchen um Toilettenpapier. Das Virus zeigt uns, wie unterschiedlich Lebenssituationen sind, wie sorglos und verletzlich wir sind, aber es zeigt uns noch viel mehr. Es zeigt uns, dass unser Planet, unsere Gesellschaft, an vielen Ecken und Enden krankt, schon bevor COVID-19 kam. 

Der Altersdurchschnitt der an COVID-19 gestorbenen Menschen in Deutschland liegt bei 82 Jahren. Die Lebenserwartung in der Zentralafrikanischen Republik liegt bei etwa 53 Jahren. 

Mensch, wer hätte das gedacht

Der Mensch hat sich die Welt untertan gemacht. Ein Virus zwingt ihn, für einen winzigen Moment in der Menschheitsgeschichte, innezuhalten, sich zurückzuziehen. Man bleibt zuhause, Fabriken werden runtergefahren, Autos und Flugzeuge bleiben stehen, der Tourismus kommt zum Erliegen. Vieles von dem, was der Mensch geschaffen hat, fällt für einen kurzen Augenblick zu großen Teilen aus. 

Vielleicht tritt ein kleiner Junge nach acht Wochen Ausgangssperre endlich wieder auf die Straße, und zum ersten Mal in seinem Leben sieht er den Himmel über Wuhan blau. Vielleicht weint ein Gondoliere in Venedig, nicht weil sein Boot leer ist, sondern weil er in den Kanälen der Stadt Fische im kristallklaren Wasser schwimmen sieht. An Stränden in Thailand finden in diesem Jahr unzählige Babyschildkröten ihren Weg ins Meer, weil niemand ihre Nester zertrampelt hat. Im Bosporus springende Delfine, sonst eine der meist befahrenen Wasserstraßen der Welt – sie tummeln sich auch in den Häfen von Triest und Cagliari. Und staunende Inder, die nach Jahrzehnten wieder von den Dächern ihrer Häuser die mächtigen Bergketten des Himalayas sehen. Weniger Igel werden überfahren, die Fischbestände in den Ozeanen erholen sich, die Vögel in den Städten zwitschern wieder leiser. Aber wir das alles reichen, für einen globalen Weckruf, dass wir so nicht weitermachen sollten? Wenn sich die Welt in schulden stürzt und existentielle Fragen in den Vordergrund drängen, wieviel Bewusstsein ist dann noch für Klima- und Umweltschutz, soziale Ungerechtigkeit? Wie wichtig ist der Blick auf den Himalaya, kristallklares Wasser, ein blauer Himmel über Wuhan im Vergleich zum eigenen Arbeitsplatz?

Globalisierung ist kompliziert

Man geht in diesen Tagen viel Spazieren, in Wäldern und zwischen Feldern, die man zu Fuß erreichen kann. Über Äckern Seite an Seite gekrümmte rumänische Rücken, sie holen mit Händen, die Arbeit gewohnt sind, Frühlingszwiebeln aus der Erde. Niemand ist da und applaudiert. In diesem Jahr saßen sie nicht stundenlang im Bus, man hat sie eingeflogen. 80.000 Saisonarbeiter hätten trotz Corona im April und Mai nach Deutschland einreisen dürfen, etwa 39.000 sind gekommen. Die Bauern sagen, wir könnten unsere Ernte nicht selber nach Hause bringen. Trotz Kurzarbeit, trotz geschlossener Restaurants, trotz der Freiwilligen, die sich gemeldet haben. Sie sagen, man muss harte Arbeit gewohnt sein. Und besonders beim Spargel, da muss man wissen wie man ihn sticht. Man muss qualifiziert sein. 

Das Virus zieht sich zurück in die Logistikzentren der Paketlieferdienste, in die Unterkünfte der Erntehelfer und besonders gerne in Schlachthöfe. Auch hier trifft es Arbeiter aus Osteuropa, angestellt über irgendwelche Subunternehmer. Man rätselt öffentlich, ob sie wohl auf den gesetzlich vorgeschriebenen Mindestlohn kommen. Im Supermarkt sucht man auf den Verpackungen der Fleischprodukte vergeblich nach Hinweisen über Arbeitsbedingungen in den Betrieben. Auf den Eiern steht, wie die Hühner leben. Die Frühlingszwiebeln kosten 69 Cent. Sie sind frisch aus der Region, transportiert werden dafür die Arbeitskräfte. Wäre eine Frühlingszwiebeln aus Rumänien nicht besser, geerntet von einem Bauern, der abends bei seinen Kindern am Tisch sitzt? Am Osterwochenende stirbt in Bad Krozingen ein Erntehelfer im Alter von 57 Jahren, er wird positiv auf COVID-19 getestet. In Rumänien lohnt es sich immer weniger, Schweine zu halten. Der Preis für das Futter ist zu hoch, die Arbeit noch dazu. Man kauft günstig in Filialen Deutscher Supermarktketten.

10. Mai, Muttertag. Vielleicht kommen die schönen Rosen auf dem Tisch aus Kenia? In guten Jahren exportiert das Land über 100.000 Tonnen Blumen. Etwa 5-6 Tage vergehen von der Ernte bis zum Verkauf. Alleine über 6000 Flugkilometer werden die Pflanzen transportiert, hinzu kommen Fahrten in Kühl-LKWs. Das Virus lässt auch diesen Markt zusammenbrechen, es gibt keine Passagierflugzeuge mehr, die Blumen mit nach Europa nehmen. Aber möchte man überhaupt Blumen aus Kenia überreichen? Das Menschen ihre Arbeit verlieren, ihr Kinder nicht mehr in die Schule schicken können, weil keiner mehr die Rosen kauft, die sie ernten, möchte man auch nicht. Es ist kompliziert. In Deutschland werden die Stimmen lauter, die vor dramatischen Folgen der wochenlagen Schulschließungen warnen. Nach dem UNESCO-Weltbildungsbericht 2017/2018 gehen weltweit 264 Millionen Kinder und Jugendliche zwischen 6 und 17 Jahren überhaupt nicht zur Schule. 

Zwischen Solidarität und Egoismus

Es geht in diesen Tag viel um Solidarität. Man bleibt zuhause, wenn man jung und gesund ist, auch um jene zu schützen die zur Risikogruppe gehören, das ist wichtig und gut. Genauso wichtig und gut ist es, dass man weltweit auf die Straße geht, weil ein weißer Polizist erbarmungslos den Afroamerikaner George Floyd mit dem Knie zu Tode drückt. Und das zeigt, es gibt auch Hass, Rassismus und Egoismus. Es gibt Staatsoberhäupter, die nur den Erhalt und Ausbau ihrer Macht im Sinn haben. Man nutzt die Ausgangssperren, um umweltkritische Projekte schnell umzusetzen und Tatsachen zu schaffen und es gibt weltweit Forderungen, zugunsten eines wirtschaftlichen Aufschwungs Klimaziele aufzugeben und Umweltauflagen zu lockern. Es gibt auf wissenschaftlicher Ebene einen wohl einmaligen Austausch, Kooperationen, bei der Entwicklung von Medikamenten und Impfstoffen, es gibt aber auch unschöne nationalstaatliche Bestrebungen, den noch nicht mal entwickelten Impfstoff zunächst der eigenen Bevölkerung zugänglich zu machen. Wer genau hinsieht, sieht beides, viel Egoismus und viel Solidarität. Aber was wird sich durchsetzen, um diese Krise zu bewältigen, bzw. um vor allem auch das anzugehen, was längst dagewesen ist und durch die Krise nochmal sichtbarer wurde?

Es ist Zeit für Visionen

Die Chance ist historisch. Man tut etwas, was man niemals getan hätte. Man nimmt unfassbare Gelder in die Hand, legt Konjunkturprogramme auf. Nur was kurbelt man an? Schnellen Konsum oder echte Veränderung. Lässt man die nächste Generation Schulden begleichen, die gemacht worden sind und den Status quo von vor der Krise wiederherzustellen?  

Werden aus Pop-Up Radwegen richtige Radwege, entwickeln wir Mobilitätskonzepte statt mit Kaufprämien die Automobilbranche anzukurbeln, bauen wir Hochgeschwindigkeitsstrecken, die uns mit dem Nachtzug von Lissabon nach Wien fahren oder retten wir Fluggesellschaften, um bald wieder zu fliegen, für Spottpreise von München nach Zürich? Werden Blumensträuße wieder teurer, aber kleiner, seltener und dafür ehrlicher überreicht? Essen wir Genuss– und respektvoller, zahlen wir mehr und schmeißen dann auch weniger weg? 

Es gibt hoffungsvolle Zeichen, im Kleinen wie im Großen. Im deutschen Konjunkturprogramm spielt die reflexartige Forderung, der Automobilbranche mit Kauf- oder Abwrackprämien unter die Arme zu greifen, diesmal keine Rolle. Stattdessen wird nun endlich ein Energieträger der Zukunft mit neun Milliarden Euro gefördert – Wasserstoff, der perspektivisch aus Afrika importiert werden soll.  

Natürlich wäre es schön, bald einen Impfstoff zu haben, der das Virus verschwinden lässt. Aber nur das Virus, nicht auch die guten Vorsätze, die Radwege in den Städten, den Applaus von den Balkonen, die Babyschildkröten, den Himalaya, den Himmel über Wuhan, die Bereitschaft zu helfen, Dankbarkeit und diesen angenehmen Hauch ein wohltuenden Demut, die überall zu spüren war. 

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