Wir sind nur vorbeigelaufen. Ich habe die Stufen hinunter gezeigt und gesagt: Hier wurde der beste Jazz der Welt gespielt. Du wolltest hineingehen. Wir sind nicht hineingegangen. Der Ort allein ist nicht magisch, habe ich gesagt, Dich an Deinem Ärmel weitergezogen. Deine Schritte widerwillig. Dann erzähl mir, wie es war, hast Du gesagt. Ich habe das weggewischt, mit einer Handbewegung. Ein paar Meter weiter, fast wie eine Entschuldigung, auch wenn ich Dich dabei nicht ansehe: Ich kann es nicht erzählen, zumindest nicht so, dass es reicht.
Du findest, dass ich es zu kompliziert mache. Auch für mich selbst. Man würde ja immer nur ein Stück von etwas herausnehmen, ein kleines Fragment erzählen. Als würde man jemanden mal schnuppern lassen oder probieren. Ich lobe Dich ein wenig zu sehr dafür, dass Du das so schön gesagt hast. Du willst nicht, sagst Du. Ich ärgere mich darüber, dass wir überhaupt hier vorbeigelaufen sind, dass ich die Stufen hinuntergezeigt habe. Dann Dein Griff nach meinem Arm, als wolltest Du mich trösten: Ist schon gut.
Mir passt das gar nicht. Wir reden über eine verdammt gute Zeit. Für mich gut. Für alle die dabei waren. Wenn wir, die von damals, uns treffen, dann reicht jedes Fragment, ein weißt Du noch, ein Fingerzeig, das Pfeifen einer Melodie.
Gestern sind wir durch Deinen Heimatort gelaufen, Gliwice, zufällig. Ich wollte Dich nur abholen, im Haus Deiner Eltern. Jetzt siehst Du mich endlich mal da, wo ich hingehöre, hast Du gesagt. Ich will fragen, ob das so ist, nach zehn Jahren in Deutschland. Ich sage ja, endlich. Dein Vater holt Gläser, Kristall, aus der Vitrine, hat gut eingeschenkt. Schon lange war keiner mehr da, hat er gesagt, von ihren Freunden und früher hatte sie hier viele Freunde. Papa, hast Du gesagt, deine Mutter hat mit den Schultern gezuckt, ihr milder Blick von Gesicht zu Gesicht. Dein Vater schenkt nochmal ein, wer weiß, wann wir uns wieder sehen, sagt er. Wir hätten es beinahe nicht mehr nach Krakau geschafft, weil Du nicht fahren wolltest und ich nicht mehr konnte.
Dann gehen wir eben erst ein wenig spazieren und essen eine Suppe, hast du gesagt, die beste Suppe der Stadt. Dein Kindergarten, deine Schule, der Spielplatz, wo Du abends mit Deinen Freunden Bier getrunken hast, alles noch da. Ach, mein Polen, so ist es, sagst Du immer wieder. Manchmal klingt es ein wenig stolz, oft sehnsüchtig. Wenn Du gleichzeitig den Kopf schüttelst – Du neigst ihn dabei so seltsam nach vorne – hat es für mich etwas Wehmütiges, aber vielleicht nur für mich. Ich frage nicht nach, woher, warum gerade jetzt dieser Seufzer kommt. Die Suppe ist ausgezeichnet. Du fragst, ob ich wieder fahren kann. Du kannst mir auch noch was zeigen, sage ich.
Es war Deine Idee, wir sind in Harris Piano Bar, sitzen auf kleinen Hockern aus Holz. Sie spielen die letzte Zugabe, du magst die Solos auf dem Keyboard, ich die Mundharmonika. Deine Ellenbogen aufgestützt auf dem Tisch, der dafür viel zu niedrig ist. Mit Daumen und Mittelfinger hältst Du Dein Glas ganz oben am Rand und schwenkst es in kleinen Kreisen. Der Gitarrist zieht die Kabel aus seinem Instrument, der Schlagzeuger öffnet Flügelschrauben. Schön, sagst Du, aber kein Jazz. Darum geht es nicht, sage ich. Und Du, ohne es auszusprechen – worum geht es dann?
Sie spielten jeden Mittwoch und jeden Freitag, in jener Bar die Stufen runter. Eine Bar an einem Ort, wo man nicht zufällig vorbeiläuft. Und wir waren fast jeden Mittwoch da, und jeden Freitag. Wir sind oft viel zu früh gekommen, um einen guten Platz zu bekommen, auf Bierbänken klebrig und zerkratzt. Manchmal spielten wir stundenlang Taula oder Karten, warten im schummrigen Licht. Gemütlich, wie Du sagen würdest. An den Wänden Bilder in Schwarzweiß, in Farbe und in allen Abstufungen, die es dazwischen gibt. Die Old Metropolitan Band, 35 Jahre unsortiert, wie sie spielten, auf Bühnen in der DDR, Jugoslawien, der Tschechoslowakei, UdSSR, Ungarn. Nach und nach trudeln sie ein, ihre Instrumente warten auf der Bühne, sind schon lange immer hier. Sie trinken Bier oder Vodka mit Cola, klopfen Zigaretten aus zerdrückten Verpackungen aus dünnem Papier, schütteln im Vorbeilaufen Hände oder heben zwei Finger zum Gruß ins Halbdunkel hinein.
Jakub fängt schon mal an, mit der Trompete, die Zigarette glimmt noch zwischen Zeige- und Mittelfinger, dazu etwas Banjo. Instrumente werden noch gestimmt, man unterhält sich dabei. Manchmal kommt ein alter Freund – Wegbegleiter – für ein zwei Solos oder für dieses eine Lied, das sie einst irgendwo, irgendwann zusammen gesungen haben – ein weißt Du noch Moment. Es beginnt nicht, es entsteht, wächst wie die nassen Flecken auf dem Hemd des Schlagzeuges – für uns legender seine ein Vodka mit Cola und zwei Zigaretten langen Solos. So lange dauerte die Pause, vielleicht auch länger. Irgendwann waren alle wieder auf der Bühne und gleichzeitig – ich weiß nicht, wie sie sich geeinigt haben, wann dieser Moment ist – waren alle Instrumente wieder laut, und dem Drummer reichte man ein Handtuch und ein Glas Wasser.
Dein Blick gibt mir recht, es reicht nicht. Ganz nebenbei kaufst Du die CD, wegen der Solos auf dem Keyboard. Sagst, dass Musik etwas Wunderbares ist, ganz allgemein betrachtet. Aber diese alten Herren. Ich weiß nicht, wie sie es gemacht haben. Wir standen immer, manchmal auf den Bänken. Wir sangen ihre Lieder mit, trommelten mit unseren Zeigefingern wild in die Luft herum, wir hingen mit den Augen an den Solos, jeden Mittwoch, jeden Freitag.
Ich weiß, was Du meinst, sagst Du. Ich nicke. Einen Absacker noch, fragst Du. Warum nicht, sage ich, irgendwie dankbar, dass es sowas gibt, einen Absacker.
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