Blockbetrachtungen

Veröffentlicht in: Kreuz - und Querlesen, Referenzen, Unterwegs | 0

Ich erkannte Herrn Lusian nicht gleich, aber ich kannte ihn ja auch nur im Anzug. Seine Anzüge waren immer etwas in die Jahre gekommen, aber fein, gut gepflegt. Er liebte es Tee aus Tässchen zu trinken, handbemaltes Porzellan, der kleine Finger weit abgespreizt, ein Denker, der Blick hellwach, konzentriert und die Antwort immer so gewählt und präzise – man war erstaunt, wie schnell er Inhalte erfasste und weiterdachte. Herr Lusian spricht vier Sprachen perfekt und alle anderen Sprachen auch so ein bisschen. Er erkannte mich – glaube ich – sofort, war sich aber nicht sicher, ob er auch erkannt werden wollte. 

Herr Lusian, ein angesehener Professor für Germanistik und Anglistik, nickte irgendwann, er nickte wie jemand, der einen Gedanken zu Ende gebracht hat. Wie jemand, der sich eingesteht, dass er sich dieser Situation nicht entziehen will oder kann. „Nun schau mal da“, sagte er, „setzt Dich, setz dich.“ 

Herr Professor Lusian – sagte ich, aber er winkte ab, wollte Viktor sein in diesem Moment, nur, einfach, bitte Viktor. Meinen Sprachkurs habe ich noch bei Professor Lusian gemacht – privat. Er sagte damals, er müsse das machen. Die neue Welt brauche keinen Geisteswissenschaftler, man könne vom Salär eines Professors nicht mehr leben.

Ich setze mich. Schau, sagt er, das ist mein Block, ein ganz normaler Block. Hier im siebten Stock, dritter Balkon von links, wurde ich geboren, weil Irena, die Krankenschwester von schräg gegenüber, zu meinem Vater sagte, lass gut sein, das schaffst Du nicht mehr. Ohne Irena wäre ich im Treppenhaus auf die Welt gekommen, so hat es mir meine Mutter erzählt – und Irena.

Nur einmal bin ich umgezogen, ausgezogen, bei meinen Eltern – so weit weg, wie man nur wegzeihen kann, innerhalb eines Blocks. Da ganz rechts oben, da wohne ich jetzt – eine Zeitlang hatte ich sogar ein Kästchen mit Blumen und eines mit Schnittlauch am Balkon. Da konnte ich sagen – dort, der Einzige mit Blumen, der ist es. Aber es hat nie einer gefragt. Und Schnittlauch schmeckt mir gar nicht. 

Hier konnte man früher wohnen, als Professor hinausgehen, mit erhobenem Haupt, mit der Straßenbahn, der alten, klapprigen, zur Universität fahren, zusammen mit allen anderen, die auch mit erhobenem Haupt aus den Blöcken kamen, die in die Kohlegruben fuhren, in die Fabriken, in die Verwaltungsgebäude, was weiß ich. Man konnte das, weil alle aus solchen Blocks kamen und wieder darin verschwanden. Und wenn sie Dir sagen, im Sozialismus waren die Blicke immer gesenkt – das stimmt nicht, es stimmt nicht. 

Früher, wenn die Sonne unterging, sie leuchtete in so einem ganz eigenem angetrübtem Orange, in unserem Orange, durch den Rauch der Fabriken, den Dunst der Stadt, den dicken Staub der Kohle hindurch  – wenn sich dieses Orange in den Fenstern spiegelte, dann sind ganz sicher einige auf ihren Balkonen gestanden, sie qualmten ohne schlechtes Gewissen selbstgedrehte Zigaretten, man hörte das Klingen der Gläser, schmutziges Lachen, manche sangen, grölten später am Abend gar Lieder, und ich kannte jeden, ich kannte die Lieder,  diese Geschichten, diese ganzen verrückten Geschichten. Hier da neben mir, wohnte Mischa, wir haben uns erst im Hof gegenseitig Erde in den Mund gestopft und Stöcke auf die Köpfe gehauen. Unsere erste Flasche Schnaps – Mischa hatte sie aus dem Schrank seines Vaters sagen wir geliehen –  haben wir dort, versteckt hinter der in Beton gegossenen Erinnerung an die Helden der Sowjetunion gesoffen und wieder rausgekotzt. Um die schönste Frau im Block, Eva, haben wir uns ganz umsonst geprügelt, beide haben wir sie zum Glück nicht bekommen und dennoch konnten wir uns später gegenseitig durch die dünnen Wände hören, wie wir unsere Söhne und Töchter gezeugt haben.

Aber wir dachten irgendwann, nichts wäre in Ordnung, nichts dürfte so bleiben wie es ist. Wir sind auf die Straße gegangen, haben geschrien, bis die Stimme versagte, Plakate haben wir hochgehalten, gar Steine geworfen, bis alles zerbrach. Wir waren so euphorisch, so überzeugt, alles wird besser. 

Und dann ist Peng, mein Block explodiert. Peng. Verstehst Du Rahim, Peng, Du kannst das nicht sehen, aber ich sehe das. Die Menschen hat es herausgeschleudert, in alle Richtungen, mit unseren Erinnerungen. Ja, das Gebäude steht, aber seine Seele, es ist von innen kaputt. Zappzarapp haben sie alles mitgenommen, was mir etwas bedeutet hat. 

Du brauchst eine Heimat, Junge, haben meine Eltern gesagt. Meine Eltern, die selbst geflohen sind und ich habe ihnen geglaubt. Und jetzt, die aus der Partei sind weg, weil man sie verachtete, die, die zu Geld gekommen sind, sind weg, haben etwas Schöneres gefunden, die Ärzte sind weg, weil in Jerusalem braucht man Ärzte, die Bauarbeiter reparieren Brücken in Deutschland und kommen nur alle paar Monate zum Saufen, die Frauen der Bauarbeiter kommen gar nicht mehr. Mein Sohn ist in Paris, meine Tochter in Kasachstan, von Mischa kamen noch zwei Postkarten aus Moskau. Peng. Du kommst nachhause, aber dein Zuhause ist nicht mehr da. 

Viktor öffnet seine Cola Flasche, sie zischt nicht, er trinkt. Niemand ist auf den Balkonen. Professor Lusian, Viktor, seit wann trinkst du Cola? Frage ich. Er lacht. In nichts, hörst du, in gar nichts kann man Wodka besser verstecken als in Cola. Wenn du hier sitzt und dir Pflaumen mitgebracht hast, in einer braunen Papiertüte, dann nehmen die Mütter ihre Kinder an die Hand und ziehen sie kopfschüttelnd vorbei, an Dir, dem Professor. Aber Cola kannst Du saufen, soviel du willst. 

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert