Einen Scheiß muss ich

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Rein äußerlich ist es ein normaler Mittwoch. Frühsommer, freundlich, Sonnenstrahlen fallen durchs Fenster und alles ist vorbereitet. Susa bereitet immer vor. Das Geschenk ist verpackt, ein Kissen mit einer Katze in verschwommener Aquarell-Optik, unhandlich verpackt in einem deutlich zu großem Karton. Susa meint, Tante Mimi mag Katzen und Kissen und Aquarelle, also wäre das das perfekte Geschenk. Die Klamotten liegen bereit, was ich gar nicht leiden kann, weil es Klamotten sind, die ich nicht anziehen würde – deswegen hat Susa sie ja bereitgelegt. Die Verbindung ist herausgesucht, mit Puffer versteht sich, man kommt nicht zu spät zu Familienfeiern. 

Und auch ich habe auf ihr wiederholtes Drängen schon vor einer Woche meinem Chef Adi gesagt, dass ich an diesem Mittwoch etwas früher werde gehen müssen, Tante Mimi wird 75. „Mittwoch?“ hat Adi gefragt, „warum nicht Samstag?“. Was soll ich sagen. Sie hat nun mal am Mittwoch und Tante Mimi feiert seit 75 Jahren ihren Geburtstag dann, wenn sie ihn hat. Das behauptet zumindest Susa, und sie muss es ja wissen, es ist ja in erster Linie ihre Tante. 

An Tante Mimi liegt es auch nicht. Sie hätte das alles nicht gewollt. „Ach, das ganze Brimborium braucht kein Mensch“ sagt Tante Mimi immer und macht dabei mit beiden Händen so eine Handbewegung, als würde sie etwas nach hinten über ihre Schultern werfen. Aber organisier mal eine Familienfeier, ohne dass es zu Brimborium kommt.  

Als ich früher gehen will, ist Adi nicht zu finden, nicht in seinem Büro (da ist er selten), nicht beim Rauchen, nicht an der Kaffeemaschine, nicht auf dem Klo. Er war es doch, der unbedingt noch kurz über die wichtige Präsi morgen reden wollte, für den wichtigen Kunden – knallen muss die, sagt Adi immer, flashen, in die Köpfe rein ballern, wir blasen die kreativ auf einen anderen Planeten, sagt Adi immer, die Fresse muss denen offen stehen bleiben, so dass sie gar nicht anders können, als mit uns – Peng alter, würde Adi sagen – wäre Adi da. 

Susa schreibt: „Wo bleibst Du.“ Es ist besser jetzt zu gehen. Ich weiß ja, wie das ist, wenn du gerade so halb den Rucksack, die Hand auf dem Weg zur Türklinke, dann kommt dieses: „hast Du noch kurz zwei Minuten“. Und zwei Minuten, die hat man ja immer.

Das erste Brimborium sind die von Susa bereitgelegten Klamotten. Ich will mich gar nicht aufregen, nein, sie meint es ja lieb, sie denkt halt mit, das muss man auch verstehen. Sie will ja nur, dass ich einen guten Eindruck mache, bei Tante Mimi und bei allen anderen Tanten, Onkeln, Eltern, Geschwistern und entfernteren Verwandten sowie eingeheirateten.

Natürlich fände ich es schöner, wenn ich mir selbst aus meinem Schrank … also, es sind ja meine Klamotten, die ich anziehe. Aber da muss man ja jetzt nicht das ganz große Fass aufmachen … stell dich nicht so an, sage ich mir. Wenn es dem Frieden dient. Aber das Problem ist weitläufiger. 

Diese Klamotten habe ich gemeinsam mit Susa – ich war frisch verliebt – gekauft, als Onkel Willibald – Tante Mimis Mann – 75 wurde, seitdem – das ist etwa 2,5 Jahre her, hängen sie im Schrank. Sie haben sich – anders als mein Körper – meinen veränderten Lebensumständen nicht angepasst. Der neue Job, Susa, das bessere Gehalt, der größere Fernseher, weniger Zeit für Sport. „Das ist die einzige anständige Hose in deinem Schrank“ sagt Susa. „Es ist die einzige Hose in meinem Schrank, die mir nicht so richtig passt“ sage ich.“ Es nützt nichts. Nichts ist an diesem Tag so mächtig, wie Tante Mimis Geburtstag.

Du zwängst Dich also in die Hose rein, überlegst, ob Du einen Gürtel anziehen sollst, damit du notfalls den Knopf aufmachen kannst. 

Da schreibt Adi: „Wo bist Du? Ich suche Dich überall!“ 
Ich antworte kurz: „Na Geburtstag Tante Mimi“
Ich finde meinen Gürtel nicht, frage Susa, wo der Gürtel ist. 
Susa sagt sichtlich angespannt: „Das fällt Dir jetzt ein“ 
Adi fragt: „Wer ist Tante Mimi“.

Ich schreibe Adi, wer Tante Mimi ist. Susa sagt: „Zieh dich mal lieber endlich an“ und gibt mir den Gürtel. Ich will meine Nachricht gerade versenden, da kommt von Adi: „Wo ist die Präsi für morgen?“ Logisch, Tante Mimi ist ihm völlig Wurst. Ich tippe neu: „Abgelegt, Server.“

Ich ziehe das Hemd an. Vor dem Spiegel stelle ich fest, dass der Stoff auf dem Weg von Knopf zu Knopf verzweifelt versucht, Abkürzungen zu nehmen. Seine eigentliche Aufgabe nimmt er dadurch, im wahrsten Sinne des Wortes, nur noch lückenhaft wahr. 

„Man kann den Bauchnabel sehen“ sage ich zu Susa. Sie meint ich solle nicht wieder anfangen zu nerven. Adi schreibt: Ist das der aktuelle Stand? 
Meine Antwort: „Ja, wenn Datum von heute.“ 
Susa sagt: „Jetzt leg halt das Handy mal weg.“
„Ich check es nicht“ schreibt Adi. 
„Ich rufe gleich an“, schreibe ich. 

Der Weg zur U-Bahn dauert drei Minuten. Susa versucht ihn in zwei Minuten zu schaffen. „Was schnaufst Du so“ fragt Adi. Ich sage ihm, dass ich ein Katzenkissen in einem Karton dabeihabe, den man mit einer Hand kaum tragen kann, Klamotten anhabe, die die Atmung einschränken, eine Freundin, die ihr Lebensglück vom Erwischen der nächsten U-Bahn abhängig macht und Bluetooth Kopfhörer, die jeden Moment aus dem Kopf fallen. 

Adi glaubt ich will ihn verarschen. Die Präsi morgen sei wichtig, Da geht es um alles. Richtungsweisend ist die! Wenn wir da performen, ja dann. Jedenfalls wichtiger als Tante Mimi, findet er. „Das sieht meine Freundin anders“ sage ich. Das bringt ihn erst so richtig in Fahrt: „Das geht so nicht, da musst Du nochmal ran, so können wir nicht an den Start gehen, ich setzte mich nicht hin und rette deinen Arsch. Da hängen Arbeitsplätze dran.“

 Ich frage mich, wie gut man wohl die Schweißflecken sieht, bei der hellen Hose und dem dunkelblauen Hemd. Susa verschärft nochmal das Tempo. „Das wird knapp sagt sie“. Meine Lackschuhe sind nicht nur albern, man hat damit auch keinen Halt. „Wieso meinen Arsch“ frage ich Adi. Man hört die U-Bahn einfahren. „Beweg dich“ sagt Susa“, sprintet die Treppe hinunter. „Wessen Arsch denn sonst“ fragt Adi. Ich muss das Kissen in beide Hände nehmen und hochhalten, damit ich die Stufen sehe. Am Ende der Treppe, das Kissen, die Lackschuhe, die Hektik, ich komme ins Stolpern, schon vorn übergebeugt kann ich mich mit zwei drei großen Schritten gerade so fangen. 

Nun ist es aber so, dass mein Handy sich – aufgrund der angespannten Hosensituation – nicht in der Hosentasche, sondern vorne in der Hemdtasche befindet. Und als ich so am Stolpern bin, als Susa gerade in die U-Bahn hineinspringt, als Adi gerade noch allen Ernstes fragt, wieso ich denn einfach früher abhauen würde, als mein Oberkörper so nach vorne gebeut ist – da fliegt das iPhone aus der Brusttasche. Und was mir in 20 Jahren beim SV Wacker nie gelungen ist, klappt hier – mit den Lackschuhen – auf Anhieb. Per Direktabnahme – volley, beinahe mit Seitfallzieher – versenke ich es unhaltbar in der Lücke zwischen U-Bahn und Bahnsteig. 

Eine emotionslose Stimme sagt „An Gleis 1 bitte nicht mehr einsteigen“. DüdoDüdo – ich erstarre vor der sich schließenden Türe. „Was ist?“ fragt Susa, zeigt mir noch den Vogel durch die Glasscheibe, dann fährt Susa ab. Aus der Gruft schickt mir Bluetooth Adis Worte: „Was Alter treibst Du da, ruf an, wenn Du Dich beruhigt hast …“ Dann ist die Verbindung weg.

Ja, ich bin verzweifelt. Ich sinke auf dem Bahnsteig auf die Knie, lege das Katzenkissen neben mich. Ich muss Adi das erklären und Susa. Bluetooth ist meine letzte Verbindung zur Welt. Ich weiß, dass das geht, wie das geht. Tief durchatmen. Das haben wir gleich. Du tippst zweimal an den Kopfhörer, sagst Hi Siri, dann sagst du, was du willst, und es passiert, dein iPhone macht das, auch wenn es da unten liegt – alles wird gut. Ich werde Adi anrufen, dann Susa, dann hole ich mein Handy aus dem Abgrund. Und in einer Stunde trinke ich bei Tante Mimi einen Espresso aus einem Tässchen aus feinstem Porzellan. 

Ich habe bestimmte Telefonnummern so abgespeichert, dass damit eine Handlungsanweisung verbunden ist. Wenn man zum Beispiel das Call-Center der Telekom mit dem Vornamen „Nicht“ und dem Nachnamen „abheben“ abspeichert, dann steht immer auf dem Display „nicht abheben“, wenn das Call-Center anruft. Adi habe ich als „Leck mich“ abgespeichert, was sich jetzt als Nachteil erweisen sollte. Aber damit rechnest du ja nicht, dass du mal am Bahnsteig kniest und „Hi Siri Leck mich“ ins Gleisbett rufst, mehrmals sogar, weil du das mit dem Tippen auf dem Kopfhöher noch nicht so raus hast. Hi Siri, Leck mich – und wie das hallt in der U-Bahn. Irgendwann sagt Siri: „Mit dieser Funktion bin ich nicht ausgestattet.“ Vielleicht rufe ich besser Susa an. Sie ist unter „Sei lieb zu ihr“ abgespeichert. Ich rufe: „Hi Siri, sei lieb zu ihr“. Siri fragt, zu wem sie lieb sein soll. 

Eine Digital Native spricht mich an und sagt ich soll mein Leben chillen, wäre doch alles in der Cloud und überhaupt müsse man gar nicht so schreien, das geht über die Kopfhörer – Digga. 

Vermutlich hat sie versucht zu helfen, wahrscheinlich wollte sie sogar nett sein. Aber das letzte, was Du in so einer Situation brauchst, ist jemand, der Digga zu dir sagt oder Bro oder chill dein Leben. Da unten im Gleisbett liegt meine Beziehung, meine Karriere und ich soll mein Leben chillen, weil alles in der Cloud ist. Möchte die mal chillen sehen, ohne Handy. 

Fuck man. Fuck, schreie ich ins Gleisbett, weil es schon egal ist. Wenn man Siri Leck mich gerufen hat, geht Fuck dann ganz leicht über die Lippen. Und ich merke, wie ich mir ein Loch grabe in meiner Verzweiflung, sehe schon überall nur noch VAG, VAG, VAG – egal wo ich hinschaue steht VAG – zwar VAG geschrieben, aber für mich eben trotzdem Fuck. (*VAG = Verkehrs-Aktien-Gesellschaft Nürnberg).

Bevor ich ganz in meinem Loch versinke, zieht mich ein langhaariger hoch, Typ Rocker, „geh mal weiter“ sagt er, „machst dich zum Affen hier“. „Ich muss meinen Chef anrufen“ – will ich ihm erklären. Er drückt mir das Katzenkissen in die Hände. „Einen scheiß musst du“ sagt er, dreht sich um und hinten auf seiner Lederweste steht es auch groß: „Einen Scheiß muss ich.“ Ich hätte Adi unter „Einen Scheiß muss ich“ abspeichern sollen. 

Der Gedanke, einen Scheiß zu müssen, gibt mir etwas Ruhe. Im Prinzip brauche ich nur mein Handy wieder, dann wird alles gut. Es scheint ja zu gehen, ich habe ja eben erst mit Siri gesprochen. Ich überlege tatsächlich, ob ich einfach ins Gleisbett springe und es hole. Da steht „Gleisbereich betreten verboten. Für Hilfe Notruf benutzen.“ Ich überlege, ob es wirklich ein Notfall ist, wenn einem das Telefon runterfällt.“ Intuitiv taste ich nach Google, um genau das zu fragen, aber auch Google liegt im Gleisbett. Was nun? Ein Notruf? Ich denke ich warte auf die nächste U-Bahn, dann frage ich den Fahrer. Die U-Bahn fährt ein – aber genau da wo ich den Fahrer erwartet habe, kleben 5 Kindergesichter an der Scheibe. VAG – fahrerlos. Hilfe, Google wo bist du. Hilfe! Es ist ein Notfall. Adi könnte einen Herzinfarkt kriegen, meine Beziehung ist in Gefahr, es könnte der Anfang meines sozialen Abstiegs sein. Man kann auch digital sterben. Also Notruf: „Unternehmen Sie nichts, in 15 Minuten ist jemand da“.

Unternehmen sie nichts? Was soll ich denn unternehmen? Ich kann meinen Insta-Account nicht checken, meinen Kontostand, die aktuellen Heizölpreise, mein Italienisch-Sprachkurs, mein ETF-Fond, meine Podcasts, YouTube, den Status meiner Amazon Bestellung, meine Bücher, meine Fotos, alles im Gleisbett – und in der Cloud, Digga. 15 Minuten warten, 15 Minuten, solange war ich noch nie hier und schon gar nicht mit leeren Taschen, ohne mein 16:9 Fenster ins Wunderland, ohne Entertainment, ohne Mailprogramm, ohne Zugang zum Weltwissen.

Ich könnte jemanden fragen, ob ich telefonieren darf, einmal kurz das Handy benutzen, „wäre echt supi und ich gebe es safe gleich zurück“. Aber ich kenne Susas Nummer gar nicht. Da steht unter Favoriten „Sei lieb zu ihr“ und da gehst Du mit dem Daumen drauf und dann klingelt es bei ihr, bzw. Marianne Rosenberg singt dann: „Liebe kann so weh tun, doch sie gibt auch viel“. Und Marianne singt nur, wenn ich anrufe! 

Ich könnte höchstens meine Eltern anrufen. Jene Nummer wählen, die man mir in meiner Kindheit eingebläut, auf den Arm geschrieben und um den Hals gehängt hat. Ich würde dann neben jemandem stehen, der sehnsüchtig auf sein Handy wartet und sage „Mama ich bin es, mir ist mein Handy in den U-Bahnschacht gefallen.“ Aber das ist gar nicht das Schlimmste. 

Kürzlich erst saß ich auf der elterlichen Couch und habe eindringlich gesagt: Mama, Papa – also wegen dieser künstlichen Intelligenz. Wenn jemand anruft, von einer fremden Nummer, und sagt, ich bin es, Euer Sohn, mir ist etwas blödes passiert – Glaubt ihm kein Wort. Und Mama hat gesagt „Aber Junge, ich erkenne dich immer, ich bin deine Mutter.“ Und ich habe gesagt Mutter, ich meine es ernst, auf keinen Fall, hörst Du. Du gibst keine Daten raus, überweist kein Geld – „Am besten informierst du gleich die Polizei.“ Also doch lieber warten – Notruf ist ja abgesetzt.

Und da stehst Du. Hast nichts zu tun. Warten. Wann hast du das letzte Mal so richtig gewartet. Du siehst den Rolltreppen beim Rollen zu, den Lichtern beim Leuchten. Ohne die Kopfhörer hörst du alles – du hörst die Schritte schreiten, wie Durchsagen durchgesagt werden. Du siehst nach oben, wo du sonst nie hinschaust, du siehst dem Aufzug in seinem Glaskäfig beim Runterkommen und Rauffahren zu. Und da liegt ja der Fernsehturm, hinter dem Gleisbett – warum hast du noch nie gesehen, dass da der Fernsehturm an die Wand gekachelt ist. Du läufst den Fernsehturm hoch und du läufst den Fernsehturm wieder runter. Du siehst Leute ein und aussteigen, von A nach B rennen und fragst dich, wo sie hin wollen, warum sie das machen. Du ärgerst Dich ein wenig, über diese komischen Gedanken, die da im Warten, beim Warten aufkommen. Jetzt bloß nicht noch irgendwelche Sinnfragen. Wenn ich mein Handy wieder hab, bin ich wieder dabei, dann steige ich in den Zug, dann fahre ich wieder mit, dann sitzt mein Leben wieder auf dem Gleis. 

„Dein Handy liegt im Gleisbett“ spricht mich jemand an. Ein drahtiger älter Herr, ein systemrelevanter, ein Macher mit Uniform und VAG Aufnäher. Jemand, der gebraucht wird, denke ich, niemand, der mit Präsis andere kreativ wegblasen muss. „Woher wissen Sie das“ frage ich zurück. „Du bist der Einzige weit und breit, der keins in der Hand hat“, antwortet er. 

Er erzählt mir, als Kind sei ihm auch mal ein Walkman da runtergefallen. „Ein Walkman…“ wiederhole ich, und klinge unbeabsichtigt despektierlich. Aber ein Walkman ist eben ein Walkman, ein Gerät, das ein Band von einer Spule auf eine andere Spule dreht. Aber da unten liegt mein Leben, meine Erinnerungen, meine externe Seele, mein gesammeltes Wissen, mein Elixier gegen Einsamkeit und Langeweile. „Was haben Sie damals gemacht?“ frage ich ihn. „ja runtergesprungen sind wir und haben ihn geholt“ sagt er – „wir waren noch anders drauf.“

Ja, damals, da waren sie anders drauf. Nicht solche Lutscher, will er sagen. Da standen aber nicht 50 Menschen am Gleis, die eine Videokamera haben. Und sie haben sie nicht nur dabei, sie haben sie auch alle schon in der Hand. Eine kleine Bewegung mit dem Daumen, und deine ganze Schmach wird aus allen Perspektiven festgehalten. 

Und nicht nur das, du bist aus dem Schacht noch nicht wieder draußen, da ist Dein Unglück schon auf dem Weg zu den ersten Satelliten, und von dort aus verbreitet es sich wie eine Explosion über die ganze Welt. Du gehst viral, ein viraler Idiot, du wirst ein weltberühmter Handynichtfesthaltenkönnendepp, ein zudickzumHochkletternTrottel, ein demistgarnichtspeinlichmensch ein armseliges Würstchen halt. 

Und dann kommst du da wirklich nicht wieder raus, weil du vor dem Bildschirm alles an Muskelmasse abgebaut hast, was man zum Tippen nicht braucht – und niemand hilft dir, weil sie alle weiter filmen wollen, weil dir ja vielleicht noch die Hose platzt oder irgendein Knopf am Hemd dem Druck nicht mehr standhalten kann. Nein, niemals. Aber er springt einfach hinunter. Eine Hand aufgestützt am Bahnsteig und ab. Er reicht mir mein Handy und Schwups, ist er wieder oben, braucht nicht mal meine Hand. Ich sage danke. Er sagt: „Wenigstens zum Einsteigen in Zukunft einstecken.“ 

Das Handy ist, bis auf einen Sprung im Display, in Ordnung. Von Susa 9 Text-Nachrichten, Adi hat 7 mal versucht anzurufen und eine Textnachricht geschickt, die aber nur aus Ausrufezeichen, Fragezeichen und einigen kotzenden Emojis besteht. Noch bevor ich mir Susas Nachrichten ansehen kann, blinkt Leck Mich auf dem Display auf, ich gehe trotzdem dran. 

Adi möchte wissen, ob ich den Schuss nicht gehört habe und ob ich noch alle Tassen im Schrank habe und ob ich noch alle Latten am Zaun habe. Ich komme nicht dazu zu antworten. „Du musst heute nochmal reinkommen und das glattziehen“ sagt er, sonst wäre ich morgen nicht mit von der Partie. Was für eine Partie? Frage ich mich. 

Morgen ist in den Arschkriechen angesagt. Bei einem Kunden der glaubt, dass mit dem Budget jegliche Art von Wertschätzung mit abgegolten ist – und Adi droht mir damit, dass ich da nicht dabei sein darf. Ich muss laut lachen – voll mit Glückshormonen, weil ich mein Handy wieder habe lache ich laut und von ganz innen heraus – und erst mein Lachen irritiert Adi so, dass es ein Zeitfenster gibt, in dem ich auch mal was sagen kann. 

Und ich höre mich mit klarer, deutlicher, lauter Stimme sagen: „Einen Scheiß muss ich, Adalbert, fick dich ins Knie. Denn Adi heißt eigentlich Adalbert und weil er seinen Eltern für diesen Namen ewig dankbar ist, geht mir der Satz runter wie Butter. Adalbert bringt Adi sofort auf die Palme und ich sage es nochmal, weil es so schön ist und so gut tut, „Einen scheiß muss ich, Adalbert.“ Und Adalbert sagt, ich solle mir mal überlegen, wie sehr ich an meinem Job hänge. Und ja, das ist eine gute Idee sage ich – Hi Siri, Leck mich auflegen. Die U-Bahn fährt ein, einsteigen, zurück aufs Gleis, 7 Stationen Zeit, um Susas Nachrichten zu lesen, mich auf Stand zu bringen, wie Adalbert sagen würde.

Erste Nachricht von Susa: „Bist Du jetzt echt schon zu blöd, um in die U-Bahn zu steigen? Sorry, aber ich bin maximal angepisst.“

Sie hat von meinem Malheur offenbar nichts mitbekommen. Dennoch schade, dass sie ein Malheur gar nicht in Betracht zieht. Wenn etwas schief geht und ich bin involviert – selbst wenn es nur am Rande ist – ist für Susa die naheliegendste Erklärung immer meine Blödheit. Aber vielleicht hat sie auch einfach recht. Ich meine Du ziehst Dich an wie eine Presswurst. Du rennst mit arschglatten Lackschuhen, um eine U-Bahn zu erwischen, die alle 5 Minuten fährt – mit einem unfassbar hässlichen Katzenkissen unterm Arm, verpackt in einem zu großen Karton – weil Amazon immer alles in viel zu großen Kartons liefert. Wie blöd bist Du eigentlich. Die ganze Scheiße für den Geburtstag von Tante Mimi, die angeblich kein Brimborium braucht. Und dabei telefonierst Du auch noch mit Adalbert, weil Du meinst es wäre in irgendeiner Weise wichtig genau jetzt mit Adalbert zu telefonieren. Wie blöd, geradezu bescheuert ist das?

Nächste Haltestelle Schweinau – zweite ungelesene Nachricht von Susa: „Ich warte in Schweinau auf Dich.“ – Das ist wohl veraltet.

Dritte Nachricht: „Wo bist du? Hier fährt nur eine U-Bahn, was genau kann man da falsch machen. Langsam platzt mir der Kragen. Ich fahre jetzt zu Tante Mimi. Ich sag du hast Stress in der Arbeit und kommst so bald wie möglich nach! Bring das in Ordnung!“ 

Aber ich bin doch schon wieder auf dem Gleis. Was meint sie mit in Ordnung bringen. In welche Ordnung, in wessen Ordnung. Wer hat sich diese Ordnung ausgedacht. Bis wohin muss ich zurückspulen?

St. Leonhard – vierte Nachricht: „Ich stehe da wie ein Idiot, hab nicht mal das Geschenk. Danke dafür!“

Wie steht Susa jetzt da? Ich spüre, wie ich hier empfindlich reagiere. „Danke dafür“! Ich sehe förmlich vor meinem geistigen Auge, wie sie das sagt. Mit gefletschten Zähnen, den Kopf leicht schräg und ein wenig geschüttelt wird er dabei auch. Danke dafür. Das wird Streit geben. Ich meine, sie hat ihren – in ihren Augen sowieso eher peinlichen – Freund unterwegs verloren und sie kann kein hässliches Katzenkissen als Geschenk überreichen. Und? Wie steht sie da? Ich habe doch gerade am Bahnsteig kniend „Siri Leck mich“ ins Gleisbett gebrüllt. Wahrscheinlich habe ich mich dabei digital verewigt. Aber wie steht denn die Susa da? Die arme Susa.  

Rothenburger Straße – fünfte Nachricht: Ein einsames Stinkefinger Emoji – das Beste bis jetzt. Endlich etwas, was von Herzen kommt. 

Sechste Nachricht: „Du weißt gar nicht, was du verpasst, Tante Mimi hat alles gegeben, und du?“

Ah, doch, ich weiß, was ich verpasse. Ist ja nicht mein erstes Familienfest. Und ich habe immer alles gegeben. Ich habe gegessen, bis es weht tut. Bis ich irgendwann möglichst unauffällig den Hosenknopf aufmachen musste, was Susas schnippische Schwester immer bemerkt und lautstark sagt: „Irgendwann muss man sich auch mal wieder eine Hose kaufen, die passt.“ Und auch immer lässt Onkel Willibald dann seinen Standardspruch los. „Wo rohe Kräfte sinnlos walten, da kann kein Knopf die Hose halten.“ Und er ist auch der Einzige, der darüber noch lacht. Und ich sage lieber gar nichts, damit ich mir keinen Tritt von Susa einfange. Tante Mimi versucht dann das letzte Stück Schweinebraten noch in irgendeinem Gast unterzubringen: „Jetzt esst halt des eine Stück noch, wird sie sagen, „ich habe extra bissl mehr gekauft, weil das letzte Mal hat es gerade so gereicht“ – und irgendjemand wird es essen und Tante Mimi wird beim nächsten Mal noch „bissl mehr“ kaufen, weil es hat ja wieder nur gerade so gereicht. 

Ich habe doch auch, nein, gerade heute ganz besonders alles gegeben …

Plärrer – siebte Nachricht: „Du musst irgendwo noch Blumen für Tante Mimi besorgen, als Entschuldigung. Auf die 10 Minuten kommt es jetzt auch nicht mehr an.“ 

Ja genau. Was für eine geniale Idee. Ich habe vom Kniefall am Bahnsteig auf der hellen Hose schwarze Flecken an beiden Knien. Ich trage ein blaues Hemd mit Salzrändern! Ich klingle mit diesem dämlichen Karton unterm Arm – sage Sorry und wegen Arbeit und Adalbert und wichtige Präsi und so. Und das letzte bisschen Würde gebe ich dann an der Türe ab, in Form eines Blumenstraußes von der Tankstelle. Das elendste Stück Brimborium überhaupt! Einen Scheiß muss ich Blumen besorgen. Einen Scheiß muss ich!

Opernhaus – achte Nachricht: „Irgendwie habe ich schon immer gewusst, dass du nicht ganz rund läufst …“

Bin ich ein Zahnrad im System, dass nicht ganz genau passt, aber es war kein anderes da? Läuft, aber eben nicht ganz rund?

Hauptbahnhof – neunte Nachricht: „Bedeute ich Dir überhaupt noch irgendwas?“

Wir sind bei den Grundsatzfragen. Ich steige mal aus. Auf 10 Minuten kommt es ja nicht mehr an, sagt selbst Susa. Ich brauche frische Luft. Ich schaue den Menschen zu, hier am Hauptbahnhof sind sie alle, die Eiligen, die Züge erreichen wollen. Die über ihre Handys gebeugten Wartenden an den Haltestellen. Die Taxifahrer, die die Eilenden schnell nach irgendwo bringen. Die, die Erinnerungen und Momente suchen und sammeln und natürlich auch die, die nicht ganz rund laufen – das ist also die Gruppe, zu der ich gehöre. Ich akzeptiere das und besorge Bier statt Blumen.

Ich suche mir ein Plätzchen, wo ich dem Trubel zusehen kann, und mich anlehnen kann, an die starken Mauern der Stadt. Hier sitze ich jetzt, auf dem Aquarell-Katzen-Kissen von Tante Mimi, den Karton habe ich mit viel Mühe Stück für Stück in den orangen Mülleimern entsorgt. Ich bringe das in Ordnung, so wie Susa es wollte. Ich überlege mir, was mir wichtig ist. Ich laufe nicht mehr unrund, ich laufe erstmal gar nicht mehr. 

Ich sitze, trinke Bier. Irgendwann wird Susa schreiben, dass sie sich Sorgen macht, dass ich doch bitte heimkommen soll, dass wir das schon wieder hinkriegen. Adi wird erst morgen anrufen, ich solle nicht gleich eingeschnappt sein, er hätte die Präsi gefunden und glattgezogen. Wir würde das schon gemeinsam rocken. Aber will ich rocken, hinkriegen? 

Ich bin müde. Sehr müde. Der Bahnhof verschwimmt zu einem animierten Aquarell mit vielen bewegten Punkten und Lichtern, verschwindet dann im Dunkel. Ich laufe durch einen Tunnel. Hinter mir die Geräusche der U-Bahn. „An Gleis 1 Bitte nicht mehr einsteigen, Düdodüdo.“ Ängstlich drehe ich mich um, an der Scheibe, dort wo der Fahrer nicht mehr sitzt, Gesichter, Susa, Adalbert, Tante Mimi, ein paar ganz wichtige Kunden, Willibald, Susas schnippische Schwester, Katzenkissen. 

Die U-Bahn fährt los, ich laufe so schnell wie es eben geht, in der engen Hose. Die U-Bahn fährt immer nur so schnell, dass ich gerade so nicht unter die Räder komme. Sie jagt mich von Station zu Station – und die Stationen haben seltsame Namen wie „Mimis Geburtstag“, „Adalberts Präsi“, „Katzen-Kissen Platz“. Ich bin völlig außer Atem. 

Oben am Bahnsteig der Mann mit dem VAG Aufnäher. „Du musst da raus“ – ruft er, aber ich habe keine Kraft. Ich schreie: „Einen Scheiß muss ich, einen Scheiß muss ich“. Jemand rüttelt an mir. „Ganz ruhig“ – sagt eine sanfte Stimme, sie kommt aus einer Uniform „sie müssen gar nichts, es ist alles in Ordnung.“  

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